1-2-3-4 Geschlechtsoptionen

Vulnerabilität und das Recht auf Anerkennung … In dieser Folge beschäftige ich mich mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur dritten Geschlechtsoption, warum es trotzdem vier Geschlechtsoptionen gibt, was es mit den Paragrafen 22 und 45b im Personenstandsgesetz auf sich hat und wie es sich anfühlt, wenn nach fast 40 Jahren etwas gerade gerückt wird.

SHOWNOTES

Der Jingle ist von Mike, der ihn für mich und diesen Podcast komponiert hat. Danke!
Wenn ihr hören wollt, was Mike noch so macht: The water is lovely

Personenstandsgesetz (PStG)

§ 22 Fehlende Angaben

(3) Kann das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so kann der Personenstandsfall auch ohne eine solche Angabe oder mit der Angabe „divers“ in das Geburtenregister eingetragen werden.

Personenstandsgesetz (PStG)

§ 45b Erklärung zur Geschlechtsangabe und Vornamensführung bei Personen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung
(1) Personen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung können gegenüber dem Standesamt erklären, dass die Angabe zu ihrem Geschlecht in einem deutschen Personenstandseintrag durch eine andere in § 22 Absatz 3 vorgesehene Bezeichnung ersetzt oder gestrichen werden soll.

Bundesverfassungsgericht

Personenstandsrecht muss weiteren positiven Geschlechtseintrag zulassen
Leitsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts zum Beschluss des Ersten Senats
vom 10. Oktober 2017

1 BvR 2019/16 –

  1. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) schützt die geschlechtliche Identität. Es schützt auch die geschlechtliche Identität derjenigen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen.
  2. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG schützt auch Menschen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen, vor Diskriminierungen wegen ihres Geschlechts.
  3. Personen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen, werden in beiden Grundrechten verletzt, wenn das Personenstandsrecht dazu zwingt, das Geschlecht zu registrieren, aber keinen anderen positiven Geschlechtseintrag als weiblich oder männlich zulässt.

Absatz 44
b) Verlangt das Personenstandsrecht einen Geschlechtseintrag, verwehrt es einer Person aber zugleich die personenstandsrechtliche Anerkennung ihrer geschlechtlichen Identität, ist die selbstbestimmte Entwicklung und Wahrung der Persönlichkeit dieser Person spezifisch gefährdet:

Absatz 45
aa) Unter den gegebenen Umständen hat die personenstandsrechtliche Anerkennung des Geschlechts Identität stiftende und ausdrückende Wirkung. Der Personenstand ist keine Marginalie, sondern ist nach dem Gesetz die „Stellung einer Person innerhalb der Rechtsordnung“ (§ 1 Abs. 1 Satz 1 PStG).

Absatz 52
c) Dass keine Möglichkeit besteht, ein weiteres Geschlecht eintragen zu lassen, ist auch nicht deshalb gerechtfertigt, weil mit der Einführung einer dritten positiven Eintragungsmöglichkeit in einer Übergangszeit ein bürokratischer und finanzieller Aufwand verbunden sein kann. Zwar müssten die formalen und technischen Voraussetzungen zur Erfassung eines weiteren Geschlechts zunächst geschaffen werden. Gegenüber der Grundrechtsbeeinträchtigung, die es bedeutet, in der eigenen geschlechtlichen Identität durch das Recht ignoriert zu werden, wäre der durch die Ermöglichung einer einheitlichen dritten Bezeichnung verursachte Mehraufwand aber hinzunehmen. Ein Anspruch auf personenstandsrechtliche Eintragung beliebiger Identitätsmerkmale, die einen Bezug zum Geschlecht haben, ergibt sich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht hingegen nicht. Davon abgesehen steht es dem Gesetzgeber frei, in personenstandsrechtlichen Angelegenheiten ganz auf den Geschlechtseintrag zu verzichten.

Absatz 59
Zweck des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ist es, Angehörige strukturell diskriminierungsgefährdeter Gruppen vor Benachteiligung zu schützen (vgl. BVerfGE 88, 87 <96>; Osterloh/Nußberger, in: Sachs, GG, 7. Aufl. 2014, Art. 3 Rn. 236, 244). Die Vulnerabilität von Menschen, deren geschlechtliche Identität weder Frau noch Mann ist, ist in einer überwiegend nach binärem Geschlechtsmuster agierenden Gesellschaft besonders hoch. Der Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG lässt es ohne Weiteres zu, sie in den Schutz einzubeziehen. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG spricht ohne Einschränkung allgemein von „Geschlecht“, was auch ein Geschlecht jenseits von männlich oder weiblich sein kann.

„Die dritte Option – Selbstbestimmung und Gleichberechtigung unter dem Grundgesetz“.

Vortrag von Prof.* Dr.* Susanne Baer im Rahmen der Tagung „Personenstand: divers. Gleichstellung weiterdenken“

Prof.* Dr.* Susanne Baer, LL.M., ist seit Februar 2011 Richterin des Bundesverfassungsgerichts im Ersten Senat in Karlsruhe.


Selbstbestimmungsgesetz

Öffentliche Anhörung vor dem Innenausschuß des Bundestages zum Selbstbestimmungsgesetz vom 2. November 2020